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BFG: Voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit & Bindung an Bescheinigungen

(Bild: © iStock/Ridofranz) (Bild: © iStock/Ridofranz)

Es besteht nach der Rechtsprechung beider Gerichtshöfe öffentlichen Rechts gemäß § 8 Abs 6 FLAG keine unbedingte Bindung an die Bescheinigungen des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen.

Nach der Rechtsprechung des VwGH obliegt die Entscheidung darüber, ob ein Gutachten iSd § 8 Abs 6 FLAG unschlüssig oder ergänzungsbedürftig ist, in jedem Fall der Beihilfenbehörde. Es ist unerheblich, ob diese in erster Instanz oder im Instanzenzug entscheidet. Eine Gutachtensergänzung oder ein neues Gutachten stellen Beweismittel dar.

Das Verwaltungsgericht ist nicht verpflichtet, solche Gutachten in jedem Fall seiner Entscheidung über den geltend gemachten Familienbeihilfenanspruch zugrunde zu legen. Nach dem Erkenntnis des VfGH vom 10. 12. 2007, B 700/07, kann von solchen Gutachten nach „entsprechend qualifizierter Auseinandersetzung“ auch abgegangen werden. In ständiger Rechtsprechung wird diese Ansicht vom VwGH vertreten. Hier: Unschlüssige Gutachten des Sozialministeriumservice, Vorliegen eines schlüssigen Gutachtens im arbeits- und sozialgerichtlichen Verfahren.

Erster und zweiter Arbeitsmarkt

„Sich selbst den Unterhalt zu verschaffen“ bedeutet, dass das Kind auf dem ersten Arbeitsmarkt, also dem regulären Arbeitsmarkt, vermittelbar ist und so imstande ist, sich selbst ohne staatliche Zuschüsse zu erhalten. Anders als der reguläre oder „erste Arbeitsmarkt“ besteht der sogenannte „zweite Arbeitsmarkt“ aus Arbeitsplätzen, die mithilfe von Förderungen der öffentlichen Hand geschaffen worden sind.

Ein „geschützter Arbeitsplatz“, der staatlich gefördert ist, erfüllt nicht die Voraussetzung, dass sich der Arbeitnehmer selbst den Unterhalt verschafft. Der Unterhalt wird auf einem solchen Arbeitsplatz mittelbar durch die öffentliche Hand oder karitative Einrichtungen geleistet, die die Mittel für den „geschützten Arbeitsplatz“ bereit stellen.

Ärztliches Gutachten zur dauernden Unfähigkeit

Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH ist der Nachweis betreffend die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, gemäß § 8 Abs 6 FLAG in einem qualifizierten Verfahren durch ein ärztliches Gutachten zu führen.

Ein Gutachten zu einer solchen Sachfrage ist die begründete Darstellung von Erfahrungssätzen und die Ableitung von Schlussfolgerungen für die tatsächliche Beurteilung eines Geschehens oder Zustands auf der Basis des objektiv feststellbaren Sachverhalts durch einen oder mehrere Sachverständige.

Sachverständige haben dabei fundierte und wissenschaftlich belegbare konkrete Aussagen zu treffen und dürfen ihre Beurteilungen und Feststellungen nicht auf Spekulationen, sondern ausschließlich auf die festgestellten Tatsachen verbunden mit ihrem fachspezifischen Wissen stützen.

Gutachten: Anforderungen an Nachvollziehbarkeit

Auch die Gutachten der Ärzte des Bundessozialamts haben den an ärztliche Sachverständigengutachten zu stellenden Anforderungen an ihre Nachvollziehbarkeit zu entsprechen. Sie dürfen sich daher insbesondere nicht widersprechen oder in bloßen Behauptungen erschöpfen.

Die Behörden des Verwaltungsverfahrens sind daher verpflichtet, die Beweiskraft der Gutachten des Bundessozialamtes zu prüfen und erforderlichenfalls für deren Ergänzung zu sorgen.

Auch wenn das Finanzamt (zunächst) keine Kenntnis des vollständigen Gutachtenstextes einer Bescheinigung nach § 8 Abs 6 FLAG hat, hat es vor Erlassung eines Bescheides zwingend gemäß § 183 Abs 4 BAO das Parteiengehör zu wahren.

Das bedeutet in Bezug auf Bescheinigungen des Sozialministeriumservice, dass es nicht ausreichend ist, wenn erst in der Bescheidbegründung auf diese Bescheinigung Bezug genommen wird, sondern dem Antragsteller ist nach Kenntniserlangung der „Metadaten“ der Bescheinigung durch das Finanzamt förmlich („Vorhalt“) Gelegenheit zu gehen, sich zu dieser Beweisaufnahme zu äußern.

Das BFG hat auch bei der Ausübung der gerichtlichen Geschäfte auf die in § 6 Abs 2 BFGG verankerten Grundsätze der Einfachheit, Raschheit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit Bedacht zu nehmen, somit bei verschiedenen in Betracht kommenden Handlungsvarianten die möglichst unkomplizierteste, die zu einer möglichst schnellen Entscheidung führt, zu wählen.

Entscheidung: BFG 2. 10. 2019, RV/7101860/2018, Revision nicht zugelassen.

⇒   Zum vollständigen Entscheidungstext.

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