Bendlinger Stefan | Waser Karl
Entgegen der jahrzehntelangen österreichischen Verwaltungspraxis hat der VwGH entschieden, dass Österreich auch dann berechtigt ist, bei der Ermittlung des auf die Inlandseinkünfte entfallenden Steuersatzes, ausländische, in Österreich aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens steuerfreie Einkünfte einzubeziehen, wenn die einkommensteuerpflichtige Person in Österreich unbeschränkt steuerpflichtig ist, ohne abkommensrechtlich hier ansässig zu sein. Diese neue Vorgangsweise ist ab der Veranlagung 2023 anzuwenden. Gegen den „Progressionsvorbehalt“ (im Allgemeinen und bei bloßer unbeschränkter Steuerpflicht im Besonderen) werden von Betroffenen und deren Beratern regelmäßig verfassungs- und unionsrechtliche Bedenken erhoben, denen die aktuelle Rechtsprechung eine Absage erteilt hat.
Progressionsvorbehalt erfordert keine DBA-rechtliche Ansässigkeit
Die bis zum Veranlagungszeitraum 2022 in Österreich jahrzehntelang geübte Verwaltungspraxis hat nur dem abkommensrechtlichen Ansässigkeitsstaat einer Person die Geltendmachung eines Progressionsvorbehalts eingeräumt. Der VwGH hat jedoch in seiner Entscheidung vom 7.9.2022, Ra 2021/13/0067 (ebenso BFG 8.11.2022, RV/710903/2021) festgehalten, dass Österreich auch dann berechtigt ist, die aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens (DBA) in Österreich steuerfrei zu stellenden Einkünfte bei der Ermittlung des auf die Inlandseinkünfte entfallenden Steuersatzes zu berücksichtigen, wenn Österreich zwar nicht der abkommensrechtliche Ansässigkeitsstaat ist, die Person nach innerstaatlichem Einkommensteuerrecht jedoch unbeschränkt steuerpflichtig ist und Österreich nur die Rolle des Quellenstaates zukommt (EStR 2000, Rz 7582 ff.). In NEWSLETTER 11/2022 und 05/2023 haben wir darüber berichtet. Dieser Paradigmenwechsel hat seitens der betroffenen Steuerpflichtigen und der Beraterschaft heftige Reaktionen ausgelöst, die in dieser Vorgangsweise eine verfassungs- und unionsrechtswidrige Überbesteuerung zu erkennen vermeinen.
Der BFH hat in seinem Beschluss vom 11.10.2023 – I R 53/20 diese Bedenken nicht geteilt und hat damit die auch von der österreichischen Rechtsprechung diesbezüglich ins Treffen geführten Argumente bestätigt.
Keine Deckelung der Gesamtsteuerbelastung mit einer fiktiven Inlandssteuer
In seinem Beschluss hält der BFH fest, dass der Progressionsvorbehalt sicherstellen soll, dass die Besteuerung nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit erfolgen soll, die unter anderem durch eine progressive Gestaltung des Steuertarifs erwirkt wird, ungeachtet der Aufteilung des Steuersubstrats auf mehrere Staaten. Die Verteilung des Besteuerungsrechts von Einkünften auf verschiedene Staaten soll sich auf den Steuersatz nicht auswirken. Personen, die Einkünfte aus mehreren Staaten beziehen, die aufgrund eines DBA auch in mehreren Staaten besteuert werden dürfen, sollen nicht einem günstigeren oder ungünstigeren Steuersatz unterliegen als Personen, die gleichhohe Einkünfte nur in ein- und demselben Staat zu versteuern haben. Insofern ist nach Ansicht des BFH in der Anwendung des Progressionsvorbehalts durch die Finanzverwaltung auch keine Verfassungswidrigkeit zu erkennen.
Auch aus unionsrechtlicher Sicht sah der BFH keine Bedenken. Die Einbeziehung abkommensrechtlich steuerfrei gestellter Einkünfte in einen Progressionsvorbehalt schränkt weder die Freizügigkeit noch die Dienstleistungsfreiheit ein. Es ist auch kein sachlicher Grund ersichtlich, warum dies nicht entsprechend für die Niederlassungs- oder die Kapitalverkehrsfreiheit gelten soll. Denn die Anwendung des Progressionsvorbehalts hat keine Benachteiligung des Beziehers ausländischer Einkünfte zur Folge, sondern bewirkt vielmehr eine Gleichbehandlung ausländischer und inländischer Einkünfte. Durch den Progressionsvorbehalt wird eine tarifliche Besserstellung inländischer Einkünfte vermieden, die anderenfalls aufgrund der Steuerfreiheit der ausländischen Einkünfte tariflich nicht die Progressionsstufe erreichen würden, die ihrer Leistungsfähigkeit entspricht. Dies gilt auch dann, wenn die Gesamtbelastung mit inländischen und ausländischen Steuern höher ist als in der Konstellation, dass die Einkünfte insgesamt der inländischen Besteuerung unterliegen. Denn – so der BFH – ist es unionsrechtlich nicht geboten, dass die Gesamtsteuerbelastung der Einkünfte aus mehreren Staaten durch den Höchststeuerbetrag einer fiktiven Inlandsbesteuerung “gedeckelt” wird. Denn dem Wohnsitzstaat kann die Höhe der Steuerbelastung im Quellenstaat nicht entgegengehalten werden.
Nachdem der I. Senat des BFH auf Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung weder verfassungs- noch unionsrechtliche Zweifel an der Zulässigkeit des Progressionsvorbehalts hatte, wurde der Fall weder dem deutschen Bundesverfassungsgericht noch dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt.
Korrespondierende Rechtsprechung in Österreich
Auch nach ständiger Rechtsprechung in Österreich ist der Progressionsvorbehalt bei DBA-rechtlicher Ansässigkeit und – ab der Einkommensteuerveranlagung 2023 (EStR 2000, Rz 7592 ff.) – bei bloßer unbeschränkter Steuerpflicht weder unions- noch verfassungsrechtlich bedenklich. Die Verfassungskonformität wurde mit VfGH 29.3.1962, B 274/61 schon vor mehr als 60 Jahren bestätigt. Nachdem durch die Anwendung des Progressionsvorbehalts ausländische Einkünfte nicht schlechter behandelt werden als inländische Einkünfte, erkannte der VwGH (VwGH 14.12.2006, 2005/14/0099; VwGH 19.5.2021, RA 2020/15/0111) auf Grundlage der Rechtsprechung des EuGH (EuGH 12.7.2005, C-403/03, Schempp; EuGH 14.3.2019, C-.174/18, Jacob und Lennertz) in der Berücksichtigung befreiter ausländischer Einkünfte bei der Berechnung eines progressiven Einkommensteuersatzes auch keinen Verstoß gegen Unionsrecht.
FAZIT
Ab der Veranlagung 2023 kann die Finanzverwaltung den Progressionsvorbehalt nicht nur dann wahrnehmen, wenn Österreich der abkommensrechtliche Ansässigkeitsstaat ist, sondern auch dann, wenn Österreich der abkommensrechtliche Quellenstaat ist. Steuerpflichtige und deren Berater haben deshalb zu prüfen, ob eine in einem anderen Staat ansässige Person in Österreich kraft ihres Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts iSd § 26 BAO in Österreich unbeschränkt steuerpflichtig ist. In diesem Fall sind die aus dem Ansässigkeits- oder aus Drittstaaten bezogenen Einkünfte bei der Berechnung des Steuersatzes für die Österreich zur Besteuerung überlassenen Inlandseinkünfte zu berücksichtigen. Versäumnisse können dabei auch finanzstrafrechtliche Folgen haben (zB BFG 29.4.2023, RV/7100535/2021). Den von verschiedenen Seiten vorgebrachten verfassungs- und unionsrechtlichen Bedenken gegen den Progressionsvorbehalt hat der BFH – ebenso wie die ständige Rechtsprechung in Österreich – jedenfalls eine Absage erteilt.
Zum Originalartikel
Bendlinger Stefan | Waser Karl
Entgegen der jahrzehntelangen österreichischen Verwaltungspraxis hat der VwGH entschieden, dass Österreich auch dann berechtigt ist, bei der Ermittlung des auf die Inlandseinkünfte entfallenden Steuersatzes, ausländische, in Österreich aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens steuerfreie Einkünfte einzubeziehen, wenn die einkommensteuerpflichtige Person in Österreich unbeschränkt steuerpflichtig ist, ohne abkommensrechtlich hier ansässig zu sein. Diese neue Vorgangsweise ist ab der Veranlagung 2023 anzuwenden. Gegen den „Progressionsvorbehalt“ (im Allgemeinen und bei bloßer unbeschränkter Steuerpflicht im Besonderen) werden von Betroffenen und deren Beratern regelmäßig verfassungs- und unionsrechtliche Bedenken erhoben, denen die aktuelle Rechtsprechung eine Absage erteilt hat.
Progressionsvorbehalt erfordert keine DBA-rechtliche Ansässigkeit
Die bis zum Veranlagungszeitraum 2022 in Österreich jahrzehntelang geübte Verwaltungspraxis hat nur dem abkommensrechtlichen Ansässigkeitsstaat einer Person die Geltendmachung eines Progressionsvorbehalts eingeräumt. Der VwGH hat jedoch in seiner Entscheidung vom 7.9.2022, Ra 2021/13/0067 (ebenso BFG 8.11.2022, RV/710903/2021) festgehalten, dass Österreich auch dann berechtigt ist, die aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens (DBA) in Österreich steuerfrei zu stellenden Einkünfte bei der Ermittlung des auf die Inlandseinkünfte entfallenden Steuersatzes zu berücksichtigen, wenn Österreich zwar nicht der abkommensrechtliche Ansässigkeitsstaat ist, die Person nach innerstaatlichem Einkommensteuerrecht jedoch unbeschränkt steuerpflichtig ist und Österreich nur die Rolle des Quellenstaates zukommt (EStR 2000, Rz 7582 ff.). In NEWSLETTER 11/2022 und 05/2023 haben wir darüber berichtet. Dieser Paradigmenwechsel hat seitens der betroffenen Steuerpflichtigen und der Beraterschaft heftige Reaktionen ausgelöst, die in dieser Vorgangsweise eine verfassungs- und unionsrechtswidrige Überbesteuerung zu erkennen vermeinen.
Der BFH hat in seinem Beschluss vom 11.10.2023 – I R 53/20 diese Bedenken nicht geteilt und hat damit die auch von der österreichischen Rechtsprechung diesbezüglich ins Treffen geführten Argumente bestätigt.
Keine Deckelung der Gesamtsteuerbelastung mit einer fiktiven Inlandssteuer
In seinem Beschluss hält der BFH fest, dass der Progressionsvorbehalt sicherstellen soll, dass die Besteuerung nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit erfolgen soll, die unter anderem durch eine progressive Gestaltung des Steuertarifs erwirkt wird, ungeachtet der Aufteilung des Steuersubstrats auf mehrere Staaten. Die Verteilung des Besteuerungsrechts von Einkünften auf verschiedene Staaten soll sich auf den Steuersatz nicht auswirken. Personen, die Einkünfte aus mehreren Staaten beziehen, die aufgrund eines DBA auch in mehreren Staaten besteuert werden dürfen, sollen nicht einem günstigeren oder ungünstigeren Steuersatz unterliegen als Personen, die gleichhohe Einkünfte nur in ein- und demselben Staat zu versteuern haben. Insofern ist nach Ansicht des BFH in der Anwendung des Progressionsvorbehalts durch die Finanzverwaltung auch keine Verfassungswidrigkeit zu erkennen.
Auch aus unionsrechtlicher Sicht sah der BFH keine Bedenken. Die Einbeziehung abkommensrechtlich steuerfrei gestellter Einkünfte in einen Progressionsvorbehalt schränkt weder die Freizügigkeit noch die Dienstleistungsfreiheit ein. Es ist auch kein sachlicher Grund ersichtlich, warum dies nicht entsprechend für die Niederlassungs- oder die Kapitalverkehrsfreiheit gelten soll. Denn die Anwendung des Progressionsvorbehalts hat keine Benachteiligung des Beziehers ausländischer Einkünfte zur Folge, sondern bewirkt vielmehr eine Gleichbehandlung ausländischer und inländischer Einkünfte. Durch den Progressionsvorbehalt wird eine tarifliche Besserstellung inländischer Einkünfte vermieden, die anderenfalls aufgrund der Steuerfreiheit der ausländischen Einkünfte tariflich nicht die Progressionsstufe erreichen würden, die ihrer Leistungsfähigkeit entspricht. Dies gilt auch dann, wenn die Gesamtbelastung mit inländischen und ausländischen Steuern höher ist als in der Konstellation, dass die Einkünfte insgesamt der inländischen Besteuerung unterliegen. Denn – so der BFH – ist es unionsrechtlich nicht geboten, dass die Gesamtsteuerbelastung der Einkünfte aus mehreren Staaten durch den Höchststeuerbetrag einer fiktiven Inlandsbesteuerung “gedeckelt” wird. Denn dem Wohnsitzstaat kann die Höhe der Steuerbelastung im Quellenstaat nicht entgegengehalten werden.
Nachdem der I. Senat des BFH auf Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung weder verfassungs- noch unionsrechtliche Zweifel an der Zulässigkeit des Progressionsvorbehalts hatte, wurde der Fall weder dem deutschen Bundesverfassungsgericht noch dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt.
Korrespondierende Rechtsprechung in Österreich
Auch nach ständiger Rechtsprechung in Österreich ist der Progressionsvorbehalt bei DBA-rechtlicher Ansässigkeit und – ab der Einkommensteuerveranlagung 2023 (EStR 2000, Rz 7592 ff.) – bei bloßer unbeschränkter Steuerpflicht weder unions- noch verfassungsrechtlich bedenklich. Die Verfassungskonformität wurde mit VfGH 29.3.1962, B 274/61 schon vor mehr als 60 Jahren bestätigt. Nachdem durch die Anwendung des Progressionsvorbehalts ausländische Einkünfte nicht schlechter behandelt werden als inländische Einkünfte, erkannte der VwGH (VwGH 14.12.2006, 2005/14/0099; VwGH 19.5.2021, RA 2020/15/0111) auf Grundlage der Rechtsprechung des EuGH (EuGH 12.7.2005, C-403/03, Schempp; EuGH 14.3.2019, C-.174/18, Jacob und Lennertz) in der Berücksichtigung befreiter ausländischer Einkünfte bei der Berechnung eines progressiven Einkommensteuersatzes auch keinen Verstoß gegen Unionsrecht.
FAZIT
Ab der Veranlagung 2023 kann die Finanzverwaltung den Progressionsvorbehalt nicht nur dann wahrnehmen, wenn Österreich der abkommensrechtliche Ansässigkeitsstaat ist, sondern auch dann, wenn Österreich der abkommensrechtliche Quellenstaat ist. Steuerpflichtige und deren Berater haben deshalb zu prüfen, ob eine in einem anderen Staat ansässige Person in Österreich kraft ihres Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts iSd § 26 BAO in Österreich unbeschränkt steuerpflichtig ist. In diesem Fall sind die aus dem Ansässigkeits- oder aus Drittstaaten bezogenen Einkünfte bei der Berechnung des Steuersatzes für die Österreich zur Besteuerung überlassenen Inlandseinkünfte zu berücksichtigen. Versäumnisse können dabei auch finanzstrafrechtliche Folgen haben (zB BFG 29.4.2023, RV/7100535/2021). Den von verschiedenen Seiten vorgebrachten verfassungs- und unionsrechtlichen Bedenken gegen den Progressionsvorbehalt hat der BFH – ebenso wie die ständige Rechtsprechung in Österreich – jedenfalls eine Absage erteilt.
Zum Originalartikel