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Wie „grün“ ist das österreichische Wettbewerbsrecht?

(Bild: © iStock/RomanBabakin)

Zur nationalen Nachhaltigkeitsausnahme und deren Auslegung[1]

Mit dem KaWeRÄG 2021[2] hielt – durch Beifügung eines auf den ersten Blick unscheinbaren Satzes in § 2 Abs 1 KartG – eine sog. Nachhaltigkeitsausnahme Einzug in das österreichische Wettbewerbsrecht. Auf den zweiten Blick bewirkt diese Ergänzung jedoch, dass Österreich in einer zumindest EU-weit intensiv geführten Diskussion zum Thema „green competition“ eine Vorreiterrolle einnimmt, da diese die erste und – soweit ersichtlich –  weltweit bisher einzige gesetzliche Normierung einer wettbewerbsrechtlichen Ausnahmeregelung zugunsten ökologisch nachhaltiger Unternehmenskooperationen darstellt.

1. Vom European Green Deal zur nationalen Ausnahmebestimmung

Mit dem im Jahr 2019 präsentierten European Green Deal[3] hat die Europäische Kommission (EK) einen umfassenden Strategie- und Aktionsplan zur Transformation der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft hin zu nachhaltigem und integrativem Wachstum vorgelegt. Als dessen Ziele wurden dabei insbesondere das Erreichen einer Treibhausgasneutralität bis 2050, die Entkopplung des Wirtschaftswachstums von der Ressourcennutzung sowie die Erhaltung und Wiederherstellung intakter Ökosysteme und der Biodiversität genannt. Wenngleich die Verfolgung dieser Ziele insbesondere Maßnahmen in den Bereichen der Energieerzeugung, der industriellen Produktion, des Transports und der Mobilität sowie der Landwirtschaft erfordert, wurde außer Streit gestellt, dass sämtliche Politikfelder der Europäischen Union einen Beitrag leisten mögen.

Dies betrifft nicht zuletzt die europäische Wettbewerbspolitik mit ihren drei Handlungsfeldern Antitrust, Fusionskontrolle und Kontrolle staatlicher Beihilfen, weswegen von der EK im Herbst 2020 eine Konsultation zu möglichen Beiträgen der Wettbewerbspolitik zum Green Deal eingeleitet wurde. Im September 2021 veröffentlichte die EK einen Zwischenstand der andauernden Diskussion in einem sog. Competition Policy Brief[4].  Hierin wurde erneut festgehalten, dass das europäische Wettbewerbsrecht eine komplementäre, unterstützende Rolle bei der Erreichung der Ziele des Green Deal einnehmen solle. Im selben Zeitraum stellten zudem die Wettbewerbsbehörde der Niederlande sowie die griechische Wettbewerbsbehörde ihre Überlegungen zur Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten im Kartellrecht vor.   

Die Ziele des Green Deal wurden zwar, sowohl von den mit dem Wettbewerbsvollzug betrauten Behörden, als auch in akademischen Beiträgen, weitestgehend als wesentlich und richtig anerkannt, doch besteht bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Einigkeit darüber, inwiefern Nachhaltigkeitsvereinbarungen zwischen Wettbewerbern gemäß Art 101 Abs 3 AEUV vom Kartellverbot ausgenommen werden können. Insbesondere wurde und wird die Frage der Zurechnung von out-of-market efficiencies, dh von Effizienzgewinnen, die zwar der Allgemeinheit, nicht jedoch (zwingend) den Verbrauchern im von der Wettbewerbsbeschränkung einer Nachhaltigkeitsvereinbarung betroffenen Markt zugutekommen, bei der Beurteilung des Ausnahmetatbestandes kontrovers diskutiert. Der aktuelle Letztstand dieser Diskussion lässt sich insbes. an dem im März 2022 von der EK zur öffentlichen Konsultation gestellten Entwurf für die Überarbeitung der Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 AEUV auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit (Entwurf Horizontal-LL)[5] ablesen.

Der österreichische Gesetzgeber hat sich, wohl (auch) als Ergebnis der anhaltenden Diskussionen, dazu entschlossen, Neuland zu betreten und mittels Einführung einer expliziten nationalen Nachhaltigkeitsausnahme die erste und bisher in Europa einzige gesetzliche Normierung einer Ausnahmeregelung zugunsten nachhaltigkeitsfördernder Unternehmenskooperationen vorgenommen.

Dies steht im Einklang mit dem österreichischen Regierungsprogramm 2020-2024[6], welches ebenso eine stärkere Ausrichtung nationaler Maßnahmen am Green Deal und einen nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort als Ziel vorsieht. Zugleich kritisiert der nationale Gesetzgeber in den Erläuterungen[7] zu § 2 Abs 1 KartG, dass die anhaltenden Diskussionen über eine wettbewerbsrechtliche Nachhaltigkeitsausnahme auf europäischer Ebene zu lange dauern sowie die daraus resultierende Rechtsunsicherheit Unternehmen abschrecken würde, die Initiative für Nachhaltigkeitskooperationen zu ergreifen, was dem identifizierten raschen Handlungsbedarf entgegenstünde.

Mit der Novellierung des § 2 Abs 1 KartG und der expliziten Anordnung, dass ab 10.09.2021 mittels Legalfiktion auch out-of-market efficiencies, dh Effizienzgewinne, welche außerhalb des betroffenen Marktes eintreten, Berücksichtigung zu finden haben, wurde also ein bisher einzigartiger Vorstoß gewagt, und Österreich und die BWB hiermit in den Mittelpunkt der anhaltenden Diskussionen über (potentielle) Ausnahmen für sog. Nachhaltigkeitskooperationen gestellt. Dabei setzt die Nachhaltigkeitsausnahme primär an der angemessenen Beteiligung der Verbraucher an und erklärt diese Beteiligung als erfüllt, wenn der aus der wettbewerbsbeschränkenden Absprache erzielte Effizienzgewinn wesentlich zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft beiträgt. Dies sei deshalb gerechtfertigt, weil die (positiven) Auswirkungen einer solchen Wirtschaft per se der Allgemeinheit zukommen, mag dies unter Umständen auch erst zeitlich versetzt – nämlich für künftige Generationen – der Fall sein.

Der Gesetzgeber nennt einen vorausschauenden und rücksichtsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen als Zielsetzung und beispielhaft folgende Anwendungsbereiche: 

  • Klimaneutralität
  • Klimaschutz (bspw. Nutzung erneuerbarer Energien, Emissionsminderung bei Treibhausgasen)
  • nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasserressourcen (bspw. Schutz der Umwelt vor den nachteiligen Auswirkungen der Einleitung von Abwässern)
  • Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft (bspw. Förderung von Reparatur- und Recyclingfähigkeit von Produkten, verstärkte Nutzung von Sekundärrohstoffen)
  • Schutz und die Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme (bspw. nachhaltige Waldbewirtschaftung)

Zudem werden u.a. die Verwendung von Abgas- oder Abwasserfiltern bei der Produktion (Verbesserung der Warenerzeugung) sowie der gemeinsame Vertrieb zur Reduzierung von Transportkosten (Verbesserung der Warenverteilung) als konkrete Anwendungsfälle für nachhaltigkeitsbezogene Innovationen bzw. Maßnahmen genannt.

In der Praxis von großer Bedeutung ist, dass der auch vor der Novelle in § 2 Abs 1 KartG vorgesehene innovative Schritt, nämlich ein Beitrag zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts auch im Anwendungsbereich des Beitrags zur ökologischen Nachhaltigkeit oder Klimaneutralität vorliegen muss, weshalb bloße Preis- oder Gebietsabsprachen – mögen sie allenfalls auch den Effekt positiver Nachhaltigkeitsmaßnahmen durch Produktionsverminderung haben – ausscheiden. Generell wird in den Erläuterungen festgehalten, dass schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkungen (insbes. Preis-, Mengen- und Gebietsabsprachen) die Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 nicht erfüllen können.

Zudem erachtete der Gesetzgeber eine Präzisierung der Nachhaltigkeitsausnahme, etwa durch Leitlinien der BWB in Konsultation mit dem Bundesministerium für Klimaschutz für die nähere Ausgestaltung als hilfreich. Aus diesem Grund hat sich eine Arbeitsgruppe der BWB ab Herbst 2021 über ein Jahr lang intensiv mit diesem Themengebiet auseinandergesetzt, um Nachhaltigkeits-Leitlinien (Nachhaltigkeits-LL) zu erarbeiten. Deren Veröffentlichung erfolgte nach Einbeziehung des BMK im Frühjahr 2022 und einer im Anschluss durchgeführten öffentlichen Konsultation unter Einarbeitung derer Ergebnisse.

2. Die österreichische Nachhaltigkeitsausnahme

Anders als das Unionsrecht, in welchem die Wettbewerbsregeln unmittelbar im Primärrecht des AEUV verankert und einer Revision somit kaum zugänglich sind, können die Regeln des nationalen (Wettbewerbs-) Rechts leichter an neue Herausforderungen und geänderte politische Zielsetzungen angepasst werden, soweit das Unionsrecht davon unberührt bleibt. Der österreichische Gesetzgeber hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und eine stärkere Berücksichtigung von Nachhaltigkeitseffekten, die von ansonsten wettbewerbsbeschränkenden unternehmerischen Kooperationen ausgehen, durch Integration in die Regelungen zur Freistellung von Vereinbarungen im österreichischen Kartellgesetz geschaffen. Konkret wurde § 2 Abs 1 KartG, welcher bis zur Novelle materiell ident mit Artikel 101 Abs 3 AEUV war, um folgenden Absatz ergänzt:

„Die Verbraucher sind auch dann angemessen beteiligt, wenn der Gewinn, der aus der Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder der Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts entsteht, zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft wesentlich beiträgt.“

Mit dieser Verankerung im nationalen Recht ist aber bereits die erste große Einschränkung dieser Regelung angesprochen: Vereinbarungen, welche aufgrund ihrer Reichweite, ihrer Natur oder der daran beteiligten Unternehmen geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu verfälschen, können davon nur profitieren, solange die Anwendung von Unionsrecht zu keinem abweichenden Ergebnis führt. Umgekehrt sind vielfältige Formen der Kooperation zwischen Unternehmen denkbar, mit denen Nachhaltigkeitsziele verfolgt werden, die aber aus kartellrechtlicher Sicht unproblematisch sind oder wettbewerbsneutral gestaltet werden können. 

Die ersten Erfahrungen im Rahmen der Diskussion mit Unternehmen und anderen Stakeholdern sowie die Ergebnisse der Konsultation des Entwurfs der Nachhaltigkeits-LL bekräftigen diese Einschätzung. Bisher konnten kaum konkrete Beispielsachverhalte gefunden werden, die nicht entweder Zwischenstaatlichkeit aufwiesen oder auch ohne Anwendung der neuen Regelung als kartellrechtlich zulässig zu qualifizieren gewesen wären. Symptomatisch ist, dass schon zwei der in den Erläuterungen gewählten Beispielsachverhalte – eine Kooperation der (internationalen) Hersteller von Waschmitteln zur Verringerung des Verpackungsvolumens sowie die Produktion von Autos, die weniger COausstoßen – wohl mit Sicherheit in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fielen. Bloß regionale Kooperationen, wie beispielsweise im Bereich einer verbesserten Transportlogistik, könnten hingegen vielfach von der Bagatellregelung gem § 2 Abs 2 Z 1 KartG profitieren oder wären bereits aufgrund der erzielten Kosteneinsparungen freistellungsfähig. Nichtsdestotrotz kann auch einer Konsultation auf europäischer Ebene zunächst eine Prüfung nach nationalem Rechts bzw. erste Gespräche mit der nationalen Behörde vorangehen. Die Intention des Gesetzgebers war womöglich auch, das nationale Recht als „Türöffner“ zu gestalten.

Anzumerken ist, dass die österreichische Regelung, anders als der aktuelle EK-Entwurf der Horizontal- LL, auf Aspekte ökologischer Nachhaltigkeit und (als aufgrund der besonderen Bedeutung als explizit genannter Unterfall) klimaneutraler Wirtschaft beschränkt ist. Andere gesellschaftliche Zielsetzungen, etwa im Bereich sozialer Standards oder des Tierwohls (sofern dieses nicht auch parallel zur ökologischen Nachhaltigkeit beiträgt), werden nicht erfasst.

Der zentrale Regelungsinhalt der Nachhaltigkeitsausnahme betrifft eine Modifikation des Kriteriums der angemessenen Verbraucherbeteiligung. Dort liegen, wie auch die europäische Diskussion zeigt, die größten Schwierigkeiten, Nachhaltigkeitseffekte als relevante Effizienzen im Sinne des Kartellrechts anzuerkennen. Mit einer – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – angeordneten Legalfiktion wird dem Problem der Einordnung von Effizienzgewinnen begegnet, welche tatsächlich nicht bei der von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Verbrauchergruppe, sondern (überwiegend) woanders, insbesondere einer nicht näher definierten Allgemeinheit anfallen.

In gleicher Weise kann damit auch einer Zeitverzögerung hinsichtlich des Eintritts positiver Effekte begegnet werden, wobei der Gesetzgeber ausdrücklich erwähnt, dass deren Eintritt (im Einzelfall) auch erst zukünftigen Generationen zugutekommen kann. Dem Erfordernis, dass die erzielten Effizienzen ein hinreichendes Ausmaß erreichen müssen, trägt indes das Wesentlichkeitskriterium Rechnung[8]. In dieser Hinsicht scheint die österreichische Regelung tatsächlich besser geeignet die notwendige zeitliche Dimension für eine langfristig nachhaltige Wirtschaft abzubilden. 

3. Die Nachhaltigkeitsleitlinien der BWB

Die Nachhaltigkeits-LL[9] der BWB wurden mit dem Fokus geschaffen, potentiell an einer Zusammenarbeit interessierten Wettbewerbern ein Werkzeug zur Selbstbeurteilung einer geplanten Kooperation an die Hand zu geben. Sie stellen aus diesem Grund unter Einbindung der Grundsätze des Kartellrechts für den praktischen Gebrauch dar, welche Formen der Kooperation grundsätzlich keine Beschränkung des Wettbewerbs erwarten lassen und daher zulässig sind. 

Bereits einleitend weisen die Nachhaltigkeits-LL darauf hin, dass die Nachhaltigkeitsausnahme nicht zur kartellrechtlichen Rechtfertigung herangezogen werden kann, wenn diese ausschließlich Aspekte von Nachhaltigkeit abseits ökologischer Nachhaltigkeit betrifft oder die Kooperation das Zwischenstaatlichkeitskriterium erfüllt, d.h. geeignet ist, den Wirtschaftsverkehr zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Zudem wird auf die weiteren – unverändert fortbestehenden – Möglichkeiten der Rechtfertigung gem § 2 Abs 1 und 2 KartG, insbes. für Kooperationen abseits ökologischer Nachhaltigkeit oder mit nur geringen Nachhaltigkeitseffekten, hingewiesen.

Für die Prüfung von Nachhaltigkeitskooperationen nach der neuen Nachhaltigkeitsausnahme des § 2 Abs 1 KartG findet folgendes fünfstufiges Prüfschema Anwendung:

1. Die Kooperation führt zu Effizienzgewinnen

Als Grundvoraussetzung muss die Kooperation zu einer Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder der Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts führen. Durch dieses Festhalten am Erfordernis des Vorliegens eines „innovativen Schritts“ sollen wettbewerbsfeindliche Kooperationen vom Anwendungsbereich ausgeschlossen werden.

2. Die Effizienzgewinne leisten einen Beitrag zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft

Aus diesen Effizienzgewinnen muss sich ein Beitrag zu Nachhaltigkeitszielen der oben genannten Dimensionen ergeben. In der Praxis werden sich in diesem Bereich Fragen der Quantifizierbarkeit und Nachprüfbarkeit dieser Effekte stellen. Je größer und eindeutiger dieser Beitrag ist, desto geringer werden die Anforderungen an die Dokumentation sein[10]. Aufgrund des durch die Zwischenstaatlichkeit begrenzten Anwendungsbereiches der Nachhaltigkeitsausnahme sind diesen Anforderungen aber auch den möglichen positiven Effekten wohl ohnedies faktische Grenzen gesetzt.

3. Dieser Beitrag zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft ist wesentlich („Wesentlichkeitskriterium“)

Die Verankerung des Wesentlichkeitskriteriums ist als wichtiger Beitrag zu werten, um bloß vorgeschobene Nachhaltigkeitsargumente („Greenwashing“) hintanzuhalten. Gleichzeitig kann es als Ersatz für einen sonst zu leistenden vollen Ausgleich der negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb angesehen werden. Der Beitrag zu einem relevanten Nachhaltigkeitsziel muss also geeignet sein, die Beeinträchtigung des Wettbewerbs auszugleichen. Konzeptuell müsste beispielsweise eine durch eine Kooperation bewirkte Preiserhöhung durch einen zumindest gleich hoch zu beziffernden Nachhaltigkeitsvorteil ausgeglichen werden.

4. Unerlässlichkeit

Es dürfen nur Beschränkungen vorgenommen werden, die zur Verwirklichung dieses Beitrags unerlässlich sind. Diese Anforderung wird unverändert aus der allgemeinen Freistellungsregelung übernommen und dient der Verwirklichung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Erlaubt ist nur das gelindeste Mittel, das zur Zielerreichung erforderlich ist. Können Unternehmen diese Ziele auch individuell erreichen, ist die Kooperation demnach nicht erforderlich. Ebensowenig sind Wettbewerbsbeschränkungen zulässig, welche nicht zur Zielerreichung beitragen. Dies kann etwa Umfang oder Dauer einer Kooperation betreffen. Die BWB wird dieses Kriterium zwecks Hintanhaltung von Greenwashing genau prüfen. Gleichzeitig soll damit aber auch keine Hürde aufgestellt werden, die praktisch nicht überwunden werden kann.

5. Keine Ausschaltung des Wettbewerbs

Die Kooperation eröffnet nicht die Möglichkeit zur Ausschaltung des Wettbewerbs für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren oder Dienstleistungen.

4. Unternehmerische Selbstbeurteilung und informelle Behördeneinschätzung

Planen Unternehmen eine Nachhaltigkeitskooperation einzugehen, sollte vorab und selbständig unter Heranziehung der Nachhaltigkeits-LL beurteilt werden, ob die Kooperation überhaupt in den Anwendungsbereich des österreichischen Kartellrechts fällt. Kommt dieses zur Anwendung, ist zu prüfen, ob die Kooperation kartellrechtskonform gestaltet werden kann.

Verbleiben nach dieser Selbstbeurteilung begründete Zweifel, ist es gute Praxis, die BWB vorab und rechtzeitig zu kontaktieren. Auch bezüglich potentiell unter das Unionsrecht fallende Kooperationen bietet es sich an, zunächst mit der nationalen Behörde Kontakt aufzunehmen. Die BWB kann in der Folge eine informelle Einschätzung nach § 2 Abs 5 WettbG, welche regelmäßig mit der zweiten Amtspartei, dem Bundeskartellanwalt, abgestimmt wird, abgeben. § 2 Abs 5 WettbG hält diesbezüglich fest:

 „Unternehmer und Unternehmervereinigungen können die Bundeswettbewerbsbehörde um eine informelle Einschätzung von unter § 1 […] fallenden Sachverhalten ersuchen. Kommt die Bundeswettbewerbsbehörde zu der Einschätzung, dass für sie im Rahmen ihres Aufgriffsermessens kein Anlass für weitere Ermittlungen besteht, kann sie dies dem Unternehmer oder der Unternehmervereinigung unter dem Vorbehalt neu auftretender Erkenntnisse mitteilen. […]“

Hierzu ist festzuhalten, dass eine derartige Einschätzung nach § 2 Abs 5 WettbG ausschließlich für eine eindeutige Ausgangslage Gültigkeit hat und lediglich die BWB selbst bindet, nicht jedoch nationale wie europäische Gerichte sowie andere Behörden. 

In komplexen Fällen ist eine Übermittlung ausführlicher und aussagekräftiger Informationen und Analysen an die BWB essentiell für die Beurteilung einer Kooperation. Unter anderem kann es notwendig sein, dass Unternehmen positive sowie negative Effekte einer Nachhaltigkeitskooperation für eine Rechtfertigung nach § 2 Abs 1 KartG quantifizieren und ggf. bewerten. Das wird insbesondere dann der Fall sein, wenn das Verhältnis zwischen positiven und negativen Effekten, und damit die Wesentlichkeit des Beitrages zu einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft, nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist.

Die Unternehmen sollten hierbei plausibel und transparent die herangezogenen Methoden, die getroffenen Annahmen und die daraus resultierenden Ergebnisse darstellen. Dies schließt Robustheitsprüfungen der Ergebnisse mit ein, z.B. eine Angabe der Schwankungsbreite (Unter- und Obergrenzen) für Schätzwerte, neben dem statistisch zentralen Schätzwert. Des Weiteren ist es hilfreich anzugeben, inwieweit Effizienzgewinne unabhängig oder in Abhängigkeit von der Produktionsmenge anfallen.

Fallabhängig können die Heranziehung von Ergebnissen existierender Studien und vereinfachte Berechnungen ausreichen. Belastbare Quellen können insbesondere unabhängige, wissenschaftliche Studien sowie von Wirtschaftsprüfern geprüfte Daten sein. Hierdurch kann ggf. auch eine Einholung von Privatgutachten oder ein Ausarten zu kostenintensiven und zeitaufwändigen Gutachterschlachten vermieden werden. Werden Schätzwerte aus existierenden Studien übertragen, ist sicherzustellen, dass die Umstände der Studie vergleichbar mit den gegebenen Umständen sind (z.B. Einkommensniveau, Bevölkerungsdichte, oder das Niveau an Umweltschäden), sodass die Ergebnisse auch tatsächlich übertragbar sind.

Letztlich muss festgehalten werden, dass geeigneten Methoden jeweils stark vom Einzelfall abhängen werden. Darüber hinaus können geänderte Umstände eine Neubewertung einer Nachhaltigkeitskooperation notwendig machen.

5. Conclusio

Mit der Novellierung des § 2 Abs 1 KartG und der expliziten Bestimmung, dass ab 10.09.2021 mittels Legalfiktion (auch) out-of-market efficiencies bei der Beurteilung von Nachhaltigkeitskooperationen Berücksichtigung zu finden haben, hat der österreichische Gesetzgeber einen bisher einzigartigen legistischen Vorstoß gewagt und Österreich und die BWB hiermit in den Mittelpunkt der anhaltenden Diskussionen über (potentielle) Ausnahmen für sog. Nachhaltigkeitskooperationen gestellt.

Bisher konnte die geringe Anzahl praktischer Anfragen an die BWB bezüglich potentieller Nachhaltigkeitskooperationsvorhaben mit den Erwartungen des Gesetzgebers sowie dem hohen akademischen Interesse an diesem Thema (noch) nicht mithalten. Dies gilt insbesondere für den unmittelbaren Anwendungsbereich der Nachhaltigkeitsausnahme wie auch der Blick auf die Fallpraxis anderer europäischer Wettbewerbsbehörden verdeutlicht. So hat sich das deutsche Bundekartellamt mehrfach mit Kooperationen betreffend landwirtschaftliche Produkte[11] auseinandergesetzt.[12] Gemeinsam ist diesen (zT auch außerhalb der ökologischen Nachhaltigkeit angesiedelten) Initiativen, dass sie aufgrund ihrer Tragweite auch unter unionsrechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen waren. Bei einer Nachhaltigkeitsinitiative zur Förderung existenzsichernder Löhne und Einkommen im Bananensektor war der nicht-verpflichtende Charakter der Vereinbarung ein maßgeblicher Beurteilungsfaktor; beim Kompensationsmodell der „Initiative Tierwohl“ wurde eine vorübergehende Wettbewerbsbeschränkung aufgrund des Pioniercharakters im Rahmen des Aufgriffsermessens toleriert. Umgekehrt wurde ein intendierter Preisaufschlag auf den Milchpreis ohne klare Nachhaltigkeitsdimension als unzulässige Preisabsprache gewertet.[13] Auch eine Entscheidung der niederländischen Wettbewerbsbehörde betreffend eine Kooperation im Bereich der CO2Speicherung[14] erscheint aufgrund der mit hohen Kosten und Risiken verbundenen Erschließung eines neuen Marktes im Einklang mit der bisherigen Auslegung des Art 101 AEUV. 

Mit den Nachhaltigkeits-LL setzte die BWB daher einen wichtigen Schritt, um Transparenz und Rechtssicherheit über die künftige behördliche Auslegung der neuen österreichischen Bestimmung zu schaffen. Die Einbettung in einen breiteren rechtlichen Kontext, der Nachhaltigkeitskooperationen in vielen Fällen auch ohne Rückgriff auf den engen Ausnahmetatbestand ermöglicht, soll damit auch deren praktische Relevanz erhöhen. Gleichzeitig hat die Behörde angekündigt, dass die Nachhaltigkeits-LL ein lebendiges Dokument bleiben, d.h. Praxiserfahrungen in künftige Versionen eingearbeitet werden sollen.


[1] Autoren: Mag. Alexander Koprivnikar ist Leiter der Rechtsabteilung der BWB, Mag. Ralph Taschke LL.M. ist Mitarbeiter der Rechtsabteilung und langjähriger Jurist der BWB; die dargestellten Sichtweisen binden die BWB nicht und geben die private Ansicht der Autoren wieder.

[2] Kartell- und Wettbewerbsrechts-Änderungsgesetz 2021, siehe 951 d.B. (XXVII. GP) – Kartell- und Wettbewerbsrechts-Änderungsgesetz 2021 – KaWeRÄG 2021 | Parlament Österreich

[3] Siehe A European Green Deal (europa.eu)

[4] Siehe Competition policy brief. 2021-01 œ September 2021 – Publications Office of the EU (europa.eu)

[5] Siehe 2022 hbers (europa.eu)

[6] Siehe Regierungsdokumente – Bundeskanzleramt Österreich

[7] Siehe Erläuterungen, S 8-11; fname_983231.pdf (parlament.gv.at)

[8] Siehe Kapitel 3.

[9] Siehe Leitlinien zur Anwendung von § 2 Abs 1 KartG auf Nachhaltigkeitskooperationen (Nachhaltigkeits-LL) (bwb.gv.at)

[10] Siehe vertiefend Kapitel 4.

[11] In diesem Bereich kann ggf auch die Ausnahme nach Art 210a GMO (VO über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse) zum Tragen kommen.

[12] Vgl https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2022/18_01_2022_Nachhaltigkeit.html

[13] Vgl https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2022/25_01_2022_Agrardialog.html

[14] Vgl  https://www.acm.nl/en/publications/acm-shell-and-totalenergies-can-collaborate-storage-co2-empty-north-sea-gas-fields

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